Wir müssen zuerst verlernen was wir wissen – Eine Begegnung mit der documenta 14

An dieser Stelle habe ich mich schon häufig über Macht, freiheitlichem Handeln und agilen Methoden, bei denen der Versuch und Irrtum im Mittelpunkt steht, ausgelassen. Mich beschäftigt seit Langem die Interdisziplinarität der agilen Methoden die ohne Anerkennung des Anderen aber ohne die Offenheit für Neues nicht funktioniert.

Über den Tellerrand der eigenen Welt hinweg zu schauen macht es möglich Neues zu denken. Im Gegenzug ist die Gewissheit, also die Sicherheit das Richtige zu wissen und zu tun, Stillstand und die Grundlage von Macht. Die Gewissheit ist damit der Feind der Innovation. Wie kann ich Gewissheit immer wieder in Frage stellen?

In diesen Tagen findet in Kassel die dokumenta 14 statt. Die Kunstausstellung ist sicherlich eine der bedeutendsten Kunstausstellung für Gegenwartskunst. Sie findet nur alle 5 Jahre statt. Entstanden ist die documenta in den 50er Jahren auch als Produkt des Marschall Plans und damit auch als Teil des moralischen Wiederaufbaus Deutschlands. In den letzten Jahrzehnten hatte der künstlerische Leiter der documenta immer völlige Freiheit bei der Umsetzung der documenta. Oft wurden dadurch Kontroversen, nicht nur in Kassel selbst, ausgelöst. Auf der Website der Stadt Kassel gibt es einen guten, kurzen Überblick der vergangen documenten.

In diesem Jahr beschäftigt sich der künstlerische Leiter Adam Szymczyk sehr stark mit der Rolle von Macht und Kolonialisierung und die darauffolgende Dekolonialisierung in der Welt. Er fragt auch danach welche Rolle die Kunst bei diesem Spiel der Macht spielt und gespielt hat. Kolonialismus meint unter heutigen Gesichtspunkten auch die Krise in Griechenland. Die westliche Staatengemeinschaft sagt in diesem Prozess was Richtig und Falsch ist und unterwirft damit das griechische Volk. Aus diesem Grund hat er auch Griechenland als zweiten Ausstellungsort, ein Novum für die documenta, ausgewählt. Ich möchte mich an dieser Stelle nicht weiter in bestimmten Weltbildern verlieren. Ich möchte lieber dazu aufrufen sich als Mensch, der sich mit agilen Arbeitsweisen auseinandersetzt, auch mit Kunst auseinander zu setzen.

In der Kunst besteht die Möglichkeit sich mit anderen Perspektiven konfrontieren zu lassen. So wird man in Kassel gleich auf dem zentralen Friedrichsplatz mit einem imposanten Werk konfrontiert: dem Parthenon der verbotenen Bücher

In diesem Kunstwerk sind Bücher enthalten die irgendwo auf der Welt verboten sind oder verboten waren. Ich war sehr erstaunt welche Bücher ich dort entdeckt habe. So war auch Harry Potter dort zu finden. Ein Buch, dass uns in unserem Weltbild doch so harmlos erscheint.

Im Begleitbuch zur documenta 14 ist zu lesen, dass Macht durch den Einsatz von Wahrheitsregimen ausgeübt wird. Besonders in der Kolonisierung wurde die absolute Wahrheit und Gewissheit des Kolonisten über das eigene Handeln in den Mittelpunkt gestellt.

Immer wieder bin ich bei meiner Wanderung über die documenta 14 auf Orte getroffen wo Künstler sich mit der Macht der Gewissheit auseinandersetzen.

Je länger ich mich jedoch damit auseinander setze umso klarer wurde mir das Hauptproblem. Wenn die Kolonisten das Land verlassen und es zur Dekolonialisierung kommt entsteht absolute Orientierungslosigkeit. Der Wahrheitsanspruch des Mächtigen war zwar unterdrückend aber stiftete auch eine gewisse Ordnung. Diese war nun weg und hinterließ ein Vakuum was oft durch totalitäre Weltbilder gefüllt wurde. Es dauerte dann nicht Lange bis dies ins Chaos führte.

Was passiert bei der Transformation eines Unternehmens in ein agiles Unternehmen? Feste Wahrheiten die durch die Macht der Manager über Jahrzehnte gepredigt wurden sind plötzlich einfach weg. Der Weg ins Chaos ist vorprogrammiert wenn die Mitarbeiter nicht von Anfang an empowered, also befähigt und ermächtigt (vgl. Zusammenarbeit) werden.

Kunstschaffende sehen sich immer wieder in der Rolle kritisch Veränderungen in Frage zu stellen. Wir Berater müssen uns auch so verstehen. Wir müssen einen kritischen Blick auf Veränderungen werfen und dürfen diese Veränderungen nicht als Kolonialisierung begreifen. Es darf nicht zu einem Wahrheitsregime des Beraters kommen der nur versucht das Vakuum des vorherigen „Machtregimes“ zu füllen. Denn die logische Schlussfolgerung daraus ist, dass, wenn der Berater geht es zum Chaos durch Dekolonialisierung kommt. Die erste Aufgabe eines Beraters könnte es daher sein, dass wir den Menschen helfen zu vergessen was sie wissen. Nur so können sie sich öffnen für neues.

Zusammenarbeit als Kern des agilen Handelns

Am Anfang meiner Gedanken stand eine Frage: Warum gibt es Unternehmen?

Die Antwort lautet schlicht: Weil es Aufgaben gibt die man nur zusammen bewältigen kann![1]

Das zentrale Wort in dieser Antwort kommt unscheinbar daher: „zusammen“.

Vor mehr als 10 Jahren tauchte in meiner Arbeitswelt der Begriff SCRUM auf. Hier habe ich das erste Mal den Ausdruck Agilität unter einem neuen Blickwinkel kenngelernt. Im Mittelpunkt des agilen Manifest und jedem Buchs zum Thema versteckte sich nämlich auch das schmale Adverb „zusammen“.

Beim Schätzen von Aufwänden wird „zusammen“ geschätzt. Bei Problemlösungen wird zusammen, interdisziplinär, nach Lösungen gesucht. Und nicht zuletzt beim Anforderungsmanagement ist das Erstellen von User Stories ein „zusammen“ mit Nutzern, Kunden, Entwicklern, Requirements Engineers, Produkt Ownern oder Produkt Managern etc.

Die gewollte Interdisziplinarität ist nichts anderes als ein Zusammenarbeiten von Menschen mit verschiedenen Fähigkeiten.

Ich möchte hier nicht eine weitere Abhandlung über Agilität und den Sinn und Zweck agiler Methoden schreiben. Ich möchte nur kurz vorweg stellen warum agiles Handeln so wichtig geworden sind.

In unsicheren Zeiten müssen gerade bei langlebiger Software schnell und fundiert Entscheidungen getroffen werden. Vor allem die Abhängigkeit und das Gleichgewicht von Kundensicht, Technologie und Wirtschaftlichkeit müssen im Fokus bleiben. Langwierige und hierarchische Entscheidungswege verlieren jedoch den Kunden aus dem Blick. Das zentrale Problem ist, dass eine Person, ein Produktmanager oder ein Produkt Owner alleine nicht die vielfallt der komplexen Abhängigkeiten berücksichtigen kann. Nur wenn das Produkt als Ganzes unter Berücksichtigung des Zielmarktes im Blick gehalten wird, können sinnvolle Entscheidungen getroffen werden. Wird jedoch ein Produkt in einzelne Projekte oder Funktionalitäten zerlegt geht der Blick auf das ganze Produkt[2] sowohl fachlich als auch wirtschaftlich verloren. Damit einher geht auch der Verlust des Blicks auf die Kundenbedürfnisse.

Doch wer hat im Produkt denn nun die Verantwortlichkeit?

SCRUM geht da ganz hierarchisch und absolut vor. Der Produkt Owner hat die alleinige Verantwortung.

Diese Meinung teile ich inzwischen nicht mehr. Interdisziplinarität ist auch auf der Verantwortlichkeitsebene eine Möglichkeit das „Richtige, richtig“ zu machen.

Die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Disziplinen und Handlungserfahrungen steht demzufolge im Mittelpunkt der weiteren Überlegungen.

Was ist nun eigentlich Zusammenarbeit?

Zusammenarbeit entsteht dann, wenn ein Problem nicht alleine zu bewältigen ist. Die Besonderheit der Zusammenarbeit liegt darin, dass Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten, Talente, Erfahrungen, Stärken und Schwächen ihre Eigenschaften bündeln, um das Best mögliche Ergebnis zu erzielen. Anders formuliert: Die Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen und Handlungserfahrungen ermöglicht unterschiedliche Blickwinkel auf ein Problem. So sind auch Lösungen zu entwickeln die aus einem Blickwinkel alleine nicht zu erkennen sind.

Beschäftigen wir uns etwas genauer mit Interdisziplinarität. Hier liegt ein Schlüssel für die Zusammenarbeit in einem Unternehmen.

Wenn nur Menschen aus den gleichen Disziplinen, mit den gleichen Methoden, Ansichten und Handlungserfahrungen zusammenarbeiten, teilen alle die Gewissheit das richtige zu tun. Habe ich aber Gewissheit bin ich nicht mehr offen für Veränderungen. Zweifel, also ein „Infragestellen“, ist jedoch der Treibstoff für Veränderungen.

In Gruppen, in denen Menschen aus unterschiedlichen Disziplinen, mit unterschiedlichen Erfahrungen und Talente zusammenarbeiten, können neue Dinge gedacht und entwickelt werden.

Damit dies funktioniert gibt es zwei grundlegende Bedingungen, quasi die Spielregeln der Interdisziplinarität:

  1. Gemeinsame Identifikation mit der Sache oder einem zu lösenden Problem: Dies ist möglich durch die Entwicklung einer gemeinsamen Challenge (Vision). Allerdings ist dabei zu beachten, dass möglichst alle Beteiligten, oder Neudeutsch: Stakeholder, einbezogen sind.
  2. Anerkennung der Fähigkeiten und Verantwortung des Anderen. Das bedeutet sehr verkürzt: Niemand im Team setzt (s)einen absoluten Wahrheitsanspruch durch.

Nimmt man diese zwei Spielregeln ernst wird klar, dass sich Teams nicht einfach auf Basis von unterschiedlicher Fachlichkeit zusammenstellen lassen. Hier liegt eine besonders spanende Führungsaufgabe in agilen Organisationen. Die einzelne Fachlichkeit spielt nämlich nicht die entscheiden Rolle. Es geht um die Fähigkeit der Teammitglieder sich untereinander anzuerkennen und nicht eigene Erkenntnisse als objektiv zu inszenieren, um diese als Wahrheit im Team durchzusetzen.

Zu diesem sich gegenseitig anerkennen kommt noch die sinnstiftende, gemeinsame Identifikation oder das gemeinsam Verständnis einer Problemsituation. Dieses Verständnis muss erarbeitet werden. Das funktioniert nur wenn der Problemlösung ein Sinn gegeben wird. Die Situation muss mit Bedeutung aufgeladen werden. Um es mit Sprenger zu sagen, wenn ein Problem erst ein 8 Semester BWL Studium braucht, um es zu verstehen, wird es nicht Sinnstiftend sein.

Wie kann Zusammenarbeit im Unternehmen gefördert werden? Die zentrale Führungsaufgabe um dies zu erreichen beschreibt ein sehr schöner englischer Begriff: Empowerment.

Empowerment ist in der agilen Welt mit Befähigung und Bevollmächtigung zu übersetzen.

Befähigung meint die Menschen mit den neuen Methoden und Leitlinien nicht alleine zu lassen, sie zu schulen, zu begleiten, zu Coachen.

Bevollmächtigen „…steht für den Freiraum zur Selbstorganisation“ (Matthias Grund in „Das demokratische Unternehmen“ S. 159).

 

[1] Vgl.: Dr. Reinhard K. Sprenger; Radikal Führen; 2012